Foto: Hong Phuc Dang (Lizenz: Creative Commons Attribution 3.0 us)

Wenn der Chor in jeder Probe anders besetzt ist, wird es kompliziert für den Chorleiter – und alle SängerInnen. Warum regelmäßige Teilnahme an Chorproben so wichtig ist.

Vor ein paar Monaten habe ich mich bei einem neuen Chor vorgestellt. Neben einer Probe hatten sich die Chorsänger ein Gespräch mit mir gewünscht. In diesem Gespräch wurde ich u.a. gefragt, ob es für mich wichtig sei, dass immer alle SängerInnen in den Proben anwesend seien. Diese Frage hat mich seitdem umgetrieben und ich möchte behaupten, dass nahezu jeder Chorleiter eines Laien-Hobby-Chores dieses leidige Thema kennt. Bei der einen Probe hat man ein Lied oder eine Stelle gut geprobt, bei der nächsten sitzt man vor komplett anderer Besetzung und fängt von vorne an. Das ist nicht nur für den Chorleiter, sondern auch für die anderen – möglicherweise fleißigen – Mitsänger anstrengend und sorgt auf Dauer für Frust.

Chorsingen macht Spaß

Früher dachte ich, naja, wenn meine Proben gut und interessant genug sind, werden die Menschen schon regelmäßig zur Probe kommen. Das ist alles eine Frage der persönlichen Prioritäten! Heute weiß ich: Zu einem gewissen Teil ist das so, aber für manche Chormitglieder ist auch einfach nicht klar, was es bedeutet, in einem Chor zu singen. Da geht man halt hin, weil es nett ist oder weil die Nachbarin da auch hingeht. Da trifft man Leute, hat Spaß und singt ein bisschen zusammen. Na klar! Singen soll Freude machen. Chorsingen ist für die meisten Menschen eine Freizeitaktivität. Und trotzdem braucht es im Chor eine andere Grundeinstellung als beispielsweise beim „Rudelsingen“.

Chor ist wie Synchronschwimmen

Einer meiner sehr geschätzten Chorleiterkollegen hat mir neulich ein wundervolles Bild an die Hand und damit den entscheidenden Anlass für diesen Artikel gegeben.
Er sagte:

„Chorsingen ist wie Synchronschwimmen. Es nützt nichts, wenn von 10 Synchronschwimmern bei der Probe 7 anwesend sind. Es geht darum, dass alle 10 gut aufeinander abgestimmt sind, sonst sieht es immer unkoordiniert aus, egal wie gut die fleißigen 7 geübt haben.“ Dieses Bild hat in mir sofort Resonanz gefunden. „So habe er sich seine Chormitglieder nach und nach zur Probendisziplin erzogen“, sagt der Kollege. „Wow“, denke ich, „das möchte ich auch!“

 
Foto: Jenny Huang (Lizenz: Creative Commons Attribution 2.0)

Ihr seid der Chor …

Auch mir war immer klar, dass „Chor“ ein Mannschaftssport ist. Nur, wenn miteinander und gut aufeinander abgestimmt geprobt wird, kann es auch auf der Bühne gelingen. Manchmal sagen Menschen: „Ich singe in einem Chor mit.“ Darin offenbahrt sich bereits das Missverständnis. Wer würde schon sagen: „Ich spiele in einer Fußballmannschaft mit“?

Das Bild mit dem Synchronschwimmen gefällt mir deswegen viel besser. So wird deutlich, dass es am Ende um das sicht- bzw. hörbare Gesamtkunstwerk geht. Hier kann kein Einzelkämpfer irgendwie „doch noch für den entscheidenen Siegtreffer sorgen“. Alle sind gleichermaßen gefordert. Nur dann kann ein Chor wirklich sein volles Potenzial entfalten.

… und jede Stimme zählt!

Natürlich gibt es immer wieder gute Gründe einer Chorprobe fernzubleiben. Das steht außer Frage. Jeder Mensch setzt eigene Prioritäten und hat seine individuellen Lebensumstände. Außerdem gibt es natürlich Menschen, die es leichter haben als andere mit dem Singen, mit den Stücken, mit den Texten und auch mit der Fähigkeit, sich auf die Mitsänger abzustimmen. Trotzdem sollte den ChorsängerInnen klar sein: Es braucht jede Stimme! „Es sind ja noch genügend andere Sopräne da!“, ist eine dieser Aussagen, die mich immer wieder verwundern.

Verantwortung für den Chor übernehmen

Grundlage dieser Einstellung ist möglicherweise das Gefühl, dass man sich im Chor auch „einfach mal dranhängen“ kann. Aber das ist ein Irrtum. Chorarbeit kann nur funktionieren, wenn jeder – im Rahmen seiner Möglichkeiten – Verantwortung übernimmt.  Ich muss immer wieder aus meiner Komfortzone heraustreten und mich aktiv beteiligen. Es gilt z.B. wach am Üben der anderen Stimmen teilzunehmen, denn möglicherweise ist das Gesagte auch für mich relevant. Ich muss selbstständig die Impulse aus dem Einsingen oder der Stimmbildung aufgreifen und anwenden und mich erinnern, was in den vergangenen Proben erarbeitet wurde. Immer wieder neu muss ich entscheiden, wann es sinnvoll ist, beherzt und sicher draufloszusingen und so andere Chorsänger zu ermutigen und wann es heißt, sich im Sinne des Zusammenklangs zurückzunehmen.

Damit schlage ich den Bogen zurück zur Ausgangsfrage, ob es wichtig ist, dass immer alle Chormitglieder bei den Proben anwesend sind. Ja und nein. Natürlich wäre das wünschenswert, aber für mich persönlich ist es noch viel wichtiger, dass die Sänger, die anwesend sind, auch wirklich „da“ sind und sich aktiv beteiligen. Der Chorleiter alleine kann den Chor nicht zusammenhalten. Wenn der Chorleiter z.B. einen bestimmten Klang oder eine besondere Dynamik einfordert oder zum deutlicheren Artikulieren animiert, geschieht das nur, wenn alle – und das meint jeder selbstverantwortlich für sich – die Anweisung motiviert umsetzen. Jede/r Einzelne muss sich mit vollem Herzen und ganzer Stimme engagieren. Der Trainer allein kann das Spiel nicht gewinnen.

Der Chor als Schwarmintelligenz

Als Ergänzung übe ich mit den Sängern in den Proben auch immer wieder die Fähigkeit, miteinander in Kontakt zu gehen. Wer gewohnt ist, sich an den anderen zu orientieren, kann sich auch mit Probenrückstand einfügen. Eine Gruppe, die sich und die Musik gut kennt, kann auch in unsicheren Situationen zueinander stehen und gemeinsam klingen. Wer gewohnt ist, während des Singens miteinander zu kommunizieren, sich gegenseitig zu unterstützen und im gemeinsamen Flow zu schwimmen, kann sich immer wieder neu aufeinander einstellen. Dann wird aus dem Synchronschwimm-Team ein lebendiger Fischschwarm. Wunderbar! Und im besten Falle macht sich der Chorleiter auf diese Weise selbst überflüssig.

Viel Spaß am Synchron-Schwimmen und -Klingen wünscht

Anna Stijohann

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Der Artikel erschien ursprünglich am 24.07.2018 bei Chorheute.